FILM & TV KAMERAMANN, 6/1986

IMMER EINS WERDEN MIT DEM FILM
Das Interview führte Werner Schmiedel im Mai 1986.

Hannah (aka Johanna) Heer, in Wien geboren, seit 1975 in New York lebende Kamerafrau und Videokünstlerin, verwendete erstmalig 1979 in dem von ihr fotografierten Spielfilm "Subway Riders" das von ihr entwickelte Farbkonzept, wonach sie jeder Person eine bestimmte Farbe durch die Beleuchtung zuwies, die der Befindlichkeit und dem Charakter der jeweiligen Person entsprach. "Subway Riders" wurde von ihr in New York produziert und hatte beachtlichen Erfolg, besonders in Europa.

So kam es, dass sie von Gabor Body ("Narciss und Psyche") nach Budapest eingeladen wurde, seinen Film "Nachtlied des Hundes" (Ungarn 1982) fotografisch zu gestalten. Es war zugleich das erste Mal, dass ein "Director of Photography" aus dem Westen für eine ungarische Filmproduktion engagiert wurde. Anschliessend fotografierte Hannah Heer "Decoder" in Hamburg, und im Sommer 1984 in München "Zuckerbaby". Der Film wurde soeben in Berlin mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichnet.

Als Videokünstlerin produzierte Hannah Heer u.a. in Zusammenarbeit mit Werner Schmiedel eine dreiteilige Videoserie mit dem Titel "Gold", und zusammen präsentierten sie 1985 im Gemeindemuseum Den Haag die Videoinstallation "Gold - Suddenly Gold Images".

In New York sprach Werner Schmiedel für den KAMERAMANN mit Hannah Heer.

KAMERAMANN: Wie kam es, dass Du als 'Director of Photography', wie das so schön im amerikanischen heisst, für den Spielfilm "Zuckerbaby" von Percy Adlon verpflichtet wurdest?

HANNAH HEER: Ich hatte Percy Adlon 1981 beim Londoner Filmfestival kurz getroffen, wo ich mit "Subway Riders" eingeladen war. Er war damals mit "Celeste" bei dem Festival; wir hatten keine Zeit, unsere Filme gegenseitig anzuschauen, aber wir hatten Gelegenheit kurz miteinander zu sprechen. Percy Adlon hat mich dann im Juli 1984 in New York angerufen und mir angeboten, die Kameraführung für "Zuckerbaby" zu übernehmen. Er erzählte mir, dass er damals bei unserer Begegnung in London entschieden hatte, mit mir arbeiten zu wollen. Es dauerte dann aber noch zwei Filme, bevor er mich engagierte.
In einem der ersten Telefongespräche, die wir miteinander führten, bat er darum, dass ich auch mit ihm das sogenannte "Shooting Script", also die Auflösung der einzelnen Szenen in Kameraeinstellungen, machen sollte. Sonst hätte er immer die Arbeit mit seiner Regieassistentin gemacht; diesmal wollte er aber darauf verzichten, da er nach dem Film "Die Schaukel" eine neue Ausgangsbasis für die Gestaltung von "Zuckerbaby" suchte. Ich begrüsste das, da ich diese Arbeitsweise von meinen anderen Filmen gewohnt war.
Er versicherte mir, dass er sich bewusst von seinem traditionellen Stil trennen wollte, und beauftragte mich, selbstständig die gesamte visuelle Gestaltung für "Zuckerbaby" zu übernehmen, entsprechend meiner Philosophie und bisherigen Erfahrung.
Das Skript gefiel mir gleich sehr gut, besonders die Möglichkeit der Verwandlung dieser dicken Frau - (Marianne Sägebrecht kannte ich damals noch nicht persönlich) - von der Isoliertheit in ein kommunikationsfreudiges, liebesfähiges Wesen. Es war eine spannende Herausforderung zu erfahren, wie Percy Adlon mit Schauspielern arbeitet.
Damals hatte ich gerade aus diesem Grund mehrere Angebote aus Deutschland und Österreich abgesagt, und als ich dann das Drehbuch von "Zuckerbaby" bekam, war ich umso glücklicher, dass ich die anderen Projekte nicht übernommen hatte, sonst wäre ich nicht für "Zuckerbaby" zur Verfügung gestanden. Das heisst aber nicht, dass ich immer als Director of Photography ausgebucht bin. Ganz im Gegenteil - es gibt eigenartige Zusammenballungsmechanismen in der Welt, sodass man oft kein Angebot hat, und dann plötzlich zur selben Zeit sehr viele.

KAMERAMANN: Mir scheint, dass die Zusammenarbeit in "Zuckerbaby" sehr fruchtbar war.

HANNAH HEER: Ich glaube, dass dieses kreative Dreieck zwischen Marianne Sägebrecht, Percy Adlon und mir besonders gut war. Es war von Anfang an ein kreativer Respekt unter uns dreien, und wir haben uns hauptsächlich auf unsere Arbeit konzentriert und uns nicht gegenseitig eingemischt, aber Anregungen gegeben, wenn wir gefragt worden sind. Percy Adlon hat mir die Kameraarbeit vollkommen überlassen, die fotografische Gestaltung, die Licht- und Farbdramaturgie und auch die Kamerabewegungen.

KAMERAMANN: Wie gehst Du an eine einzelne Szene heran? Zeichnest Du ein Storyboard, arbeitest Du intuitiv?

HANNAH HEER: Unlängst habe ich ein Dinner mit einem Regisseur und dessen Frau gehabt, deren Drehbuch mir sehr gefallen hat. Sie haben mich gefragt, ob ich sofort die visuellen Entscheidungen treffe beim Lesen des Skripts. Dazu muss ich sagen, es ist ein spontanes Verbundenheitsgefühl sofort beim Lesen, und eine vage Inspiration und visuelle Phantasiegestaltung visionärer Art findet statt beim ersten Lesen. Aber dann, neben dieser ersten Vision, setzt ein sehr langer Arbeitsprozess ein, und dabei gehe ich in verschiedenen Schichten vor.
Ich lese das Drehbuch oft und oft und versuche auch durch Gespräche herauszufinden, was die wichtigsten Punkte der Geschichte sind. Dann entwickle ich ein allgemeines visuelles Konzept für den Film. Dann werden die einzelnen Farben Szene für Szene entworfen.
Im allgemeinen ist es vorher genau entschieden, aber Faktoren, die ich nicht wusste oder mit denen ich erst am Drehort konfrontiert werde, beispielsweise Veränderungen in der Frisur oder durch zusätzliche Ausstattungselemente oder auch durch Wetterveränderungen, erfordern oft letztendlich Anpassungen an den Set, die ich in letzter Minute ausführen muss, die dann Veränderungen in der vorgefassten Konzeption bedeuten.

KAMERAMANN: In "Zuckerbaby" gibt es eine etwa neunminütige Szene mit Marianne Sägebrecht, und diese Einstellung ist nur in einem Take gedreht worden.

HANNAH HEER: Wir kamen alle sehr gut vorbereitet für diese Szene an den Set; es war ein schöner magischer Moment, und da der erste Take sehr gut war und wir nicht glaubten, dass wir diese Szene weiter verbessern könnten, machten wir keine Wiederholung. Wir waren alle sehr glücklich, dass wir neun Minuten in neun Minuten gedreht hatten - das kommt nicht so oft vor.
Ich habe das Material direkt ins Kopierwerk geschickt, und wir liessen das Set und die Beleuchtung stehen für den Fall, dass sich ein technischer Fehler eingeschlichen hätte, damit wir die Einstellung hätten wiederholen können.

KAMERAMANN: Am Schluss des Films gibt es eine Tanzszene, in der Deine Kamera sich ganz entfesselt und ungestüm bewegt.

HANNAH HEER: Ich wollte mit der Kamera mit den Tanzenden mittanzen. Manche finden, dass sich die Kamera da viel zu viel bewegt. Diese Szene ist eine Tanzszene, und ich wollte, dass das Publikum innerlich mittanzt. Ich habe den Rhythmus angepasst an das Lied "Sugarbaby", dass die Paul-Würges-Rockband auch live gespielt hat, während wir die Szene gedreht haben. Und es entspricht auch meinem Konzept, die Gefühle in Kamerabewegungen umzusetzen.
"Zuckerbaby" ist eine Liebesgeschichte, obwohl in gewisser Weise meine anderen Filme auch Liebesgeschichten sind. Aber in "Zuckerbaby" ist die Erfüllung der Liebe etwas weitergegangen, und deswegen habe ich mich auch entschieden für eine Farbverwandlung von den kalten isolierten Grüntönen am Beginn zu den warmen Rot- und Rosatönen in der zweiten Hälfte des Films.

KAMERAMANN: Man empfindet diesen extremen Einsatz der Farben als eine zusätzliche Dimension, die den Film als solches hervorragend unterstützt, insbesondere im Erzählen der Handlung. Das scheint beinahe ebenso revolutionär wie das Dazukommen des Tones nach der Stummfilmära. Aber wenn man andere Filmemacher oder Kameraleute über den Gebrauch von Farben sprechen hört und diese Filme mit Deinen vergleicht, sieht man, dass sie nicht das gleiche meinen.

HANNAH HEER: Ich glaube, dass ich als Künstlerin intensive Gefühle darstellen und vermitteln möchte. Andere Directors of Photography verstehen sich eher als technisches Instrument des Regisseurs, wobei Technik natürlich wichtig ist, aber es ist nur ein Element. Schreiben beispielsweise wird heutzutage komplizierter, da schreiben auf dem Computer (Wordprocessing) gegenüber dem Schreiben auf einer Schreibmaschine beinahe so kompliziert sein kann, wie eine Kamera zu führen. Man kann umgekehrt auch sagen: es ist nicht so kompliziert, denn Kameraführen ist genauso einfach wie Schreiben.
Und aus diesem Interesse, aus dieser Identifikation, kommt es, dass ich eine intensivere fotografische Gestaltung entwickelt habe als vielleicht andere Kameraleute.

KAMERAMANN: Zum Schluss interessiert uns noch eine Frage. Was ist der Unterschied für Dich, wenn Du in den USA oder in Deutschland arbeitest?

HANNAH HEER: Es gibt keinen Unterschied - es ist überall das gleiche - oder man kann auch sagen: es ist immer anders, einen Film zu drehen, weil jeder Film anders ist. Frei nach Elizabeth Taylor, die gefragt wurde: "Was ist der Unterschied im Film zu spielen gegenüber im Theater?" - und die darauf erwiderte: "Es ist immer das Gleiche; man wird eins mit der Rolle!" Und das Gleiche möchte ich auch sagen: Man wird eins mit dem Film!

FILM & TV KAMERAMANN, 5/1986

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